Poesie in Farben von Mehmet Güler

15. Juli bis 14. August 2022

Mehmet Güler in seinem Atelier

Mehmet Güler hat einen besonderen Lebensweg hinter sich. Er wurde 1944 in die traditionelle, geschlossene Gemeinschaft eines kleinen Dorfes in Anatolien hineingeboren. Schon mit ca. 11 Jahren hatte er den Mut aufgebracht, erstmals gegen die Enge und Weltabgeschiedenheit dieser bäuerlichen Gemeinschaft zu protestieren. Ein Lehrer vermittelte ihm, dass es eine faszinierende Welt außerhalb des Dorfes gab und zum ersten Mal hat er bei ihm das Malen mit Pinsel und Farben erlebt. Einerseits hat er da beschlossen, auch ein Lehrer mit dem Wissen über diese Welt zu werden und andererseits hat ihn das Malen so begeistert, dass er sich aus den Schwanzhaaren eines Eichhörnchens einen Pinsel hergestellt und mit Farben, die zum Färben von Wolle verwendet wurden, die Möglichkeiten für sein erstes eigenes Malen geschaffen hat.
Mit 13 Jahren kam er in ein Internat und war damit der erste, der das Dorf für eine Weiterbildung verlassen hat und der später an der Gazi Universität in Ankara ein Studium als Kunsterzieher und Künstler absolvierte, dass er 1965 erfolgreich abschloss. Nach ein paar Jahren Schuldienst ist Mehmet Güler als Dozent an die Gazi Universität zurückgekehrt.

Auf Grund seiner erfolgreichen Arbeit bekam er ein Auslandsstipendium und ging – auf Empfehlung eines Freundes – nach Kassel an die damalige Hochschule für Bildende Künste, für ein weiteres Studium der Malerei und Grafik. Nach Rückkehr in die Türkei hatte sich die politische Situation so verändert, dass für ihn die Freiheit, die er für die Kunst als unabdingbar ansah, nicht mehr zu verwirklichen war. Deshalb ging er das Abenteuer ein, 1977 mit seiner Familie nach Deutschland und letztlich nach Kassel zu ziehen.

Mehmet Gülers Werk umfasst Holzschnitte, Radierungen und Gemälde. In allen drei Bereichen hat er beeindruckende Werke geschaffen, die sowohl von tiefgründigen inhaltlichen Überlegungen, als auch von einem ausgeprägten handwerklichen Können zeugen.
In unserer Ausstellung „Poesie in Farben“ beschränken wir uns auf die Gemälde. Mehmet Gülers Werke haben sich im Laufe der Jahrzehnte von eher figürlichen Darstellungen zu zunehmend abstrakt expressiven Inhalten entwickelt. Relativ früh hat er seine Bilder sehr farbgewaltig gestaltet. Kräftige Blau- und Rot-Orange-Gelbtöne, von Weiß und Schwarz und wenig Grün begleitet, kennzeichnen seine Malerei. Farbflächen sind nicht gleichmäßig glatt, sondern vibrieren um einen Farbton, sind strukturiert. Feine – andeutungsweise figurative – Linienzeichnungen und Textfragmente durchziehen in einigen Werken diese Flächen zusätzlich. Die schmalen weißen oder hellen, fast immer etwas nach rechts geneigten Flächen, kann man als von Tüchern umhüllte Figuren interpretieren. Sie treten fast immer in Gruppen auf und ich würde sie als ein Relikt des Erlebens dörflicher Gemeinschaft aus seiner Kindheit und Jugend interpretieren.

Mehmet Güler hat sich mit seiner expressiven Pinselführung, seiner immer sehr differenzierten Farbwahl und seinen ausgewogenen Kompositionen einen unverwechselbaren Stil erarbeitet, dem er – unbeeinflusst von allen inzwischen entwickelten Kunststilen – bis heute treu geblieben ist. Seine Arbeiten bauen Brücken sowohl zwischen den Kulturen der alten und der neuen Heimat, als auch zwischen einem geschlossenen, zweckbestimmten nur auf den Daseinserhalt ausgerichteten, mit dem eines freien, offenen, ästhetisch geleiteten Lebens.
Mehmet Güler hat verinnerlicht, dass er in einer großartigen Welt auf einem fantastischen Planeten lebt und dieses Bewusstsein geht auch in seine Gemälde ein. Sie konnten nur hier entstehen.
Ihm gelingt es, durch die Tiefgründigkeit und Reife, durch die erstaunliche Kraft und Energie, die seine Arbeiten ausstrahlen, die Betrachter, die sich auf sie einlassen, in ihren Bann zu ziehen.

Rainer Henze

Fotos Rainer Henze und Martin Hollenstein

HNA Kassel, 05.08.2022

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